1301 + 2



Es ist Samstagvormittag in Berlin. Zeit und Raum, auszuschlafen, gediegen zu frühstücken oder einfach zu verweilen. Zeit für mindestens 1301 Fahrradfahrer, ihre Räder auf der ehemaligen Rollbahn des Tempelhofer Feldes lückenlos aneinander zu reihen. Der bestehende Weltrekord von 1300 möchte geknackt werden, um einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde zu erreichen. Auch, wenn darin keiner der Beteiligten namentlich erwähnt werden wird.
Hauptsache einmal bei einem Weltrekord dabei sein. Seinen eigenen Namen dabei nachfühlen.
 Wofür andere morgens freiwillig aufstehen, fehlt mir die Euphorie. Ich bin aus finanziell wertvollen Aspekten auf dem Rollfeld zugange und nicht aus purer Leidenschaft. So finde ich mich, ausgestattet mit einer orangefarbenen leuchtenden Warnweste, in Sektor 4 wieder.
 Sektor 4, das ist mein Revier.
Hier bin ich dafür verantwortlich, den zugeteilten Fahrrädern und ihren Menschen Plätze zuzuweisen. Lückenlos.
Jedes Rad muss sich berühren, so soll es sein. So wird es sein.
Sollte der Weltrekord aus Mangel an Teilnehmern nicht geknackt werden, so kann es nicht mein Verschulden sein. Wie 1301 Berliner motivieren, mit ihrem Rad Samstagvormittag starr auf der Landebahn zu verharren? Klappt es aber doch mit den 1301, kommt der Notar und findet eine Lücke zwischen den Rädern in Sektor 4 – so wird der gescheiterte Weltrekord auf ewig mit meinem Namen befleckt sein.
Jedes Rad muss sich berühren, so wird es sein.

Unabhängig von der Sinnhaftigkeit des Unterfangens, beschließe ich, orange leuchtend, meine Aufgabe ernst zu nehmen. Ich lasse Fahrräder hin und her schieben, heiße deren Besitzer in Sektor 4 willkommen und achte wie angewiesen darauf, dass jeder Drahtesel das jeweils vorhergehende und darauffolgende Fahrrad lückenlos an Vorder-bzw. Hinterrad berührt.

Es geht schließlich nicht nur um Fahrräder,es geht um die Wurst.
Dann treffe ich auf zwei Dackel. Sie fahren liegend auf mich zu. Sie sind mit ihren Herrchen unterwegs und genießen den Komfort, über einen eigenen, gelben Anhänger zu verfügen, der als breite Spielwiese zum windschnittigen, vierbeinigen Verweilen einlädt.
Ich spüre, dass es für ein herannahendes Unheil nicht eines schwarzen Katers, sondern nur zweier Dackel bedarf. Ihre Herrchen reihen sich mitsamt des Anhängers in die Fahrradschlange meines Sektors ein. Das Vorderrad des vorherigen Fahrrades berührt eines der Hinterräder des Anhängers. So, wie die Regeln es zunächst augenscheinlich besagen.
Wären da nicht die Dackel. Und ihr Gefährt. Ich bitte das vorhergehende Fahrrad an das Hinterrad des Dackel-Konvoi-Fahrrads aufzuschließen und den Dackel-Transporter somit faktisch in der Berührung zu umgehen. Er steht nun etwa parallel zum anschließenden Fahrrad. Was ich gegen Hunde hätte? Ich sage: „ Nichts“. Gegen Dackel? „Nichts“. Nicht aber dürften die Dackel mein Verschulden an einem gescheiterten Weltrekord durch Regelverstoß bedingen, denke ich.

Inwiefern dürften die Dackel dann nicht direkt an dem Weltrekord teilnehmen? Wer sagte, dass Weltrekorde nur auf Menschen ausgerichtet seien? Besäßen nicht auch Dackel menschliche Charaktereigenschaften?
Sind Hunde nicht auch nur Menschen?

In der Schlange entspinnt sich ein Gespräch über die Qualitäten von Dackeln, insbesondere über ihre Rauhaarabteilung. Ich wende mich ab.
Es schlägt 13.00 Uhr, allmählich zieht sich der Himmel zu. Es fängt an, leicht zu regnen. Statt der erwarteten 1301 haben sich bisher nur rund 1000 Leute auf dem Rollfeld versammelt. Die bereits versammelten Radfahrer haben ihre Räder in eine lange Linie aufgereiht und warten darauf, den Rekord zu erleben, während sie nass werden. Oder bis sie schwarz werden. Noch müssen sie geduldig  warten.

Wer die Dackel nicht zulasse, geschweige denn nicht mitzähle, sei selbst schuld, schallt es aus der Mitte von Sektor 4. Ich versuche, die Worte an meiner leuchtenden Weste abprallen zu lassen. Schließlich könnten sie das Zünglein an der Waage, der Anhänger mit den hechelnden Gefährten das 1301. Mobil sein.
„Weniger geht es darum, dass Dackel keine Menschen sind“, gebe ich zu bedenken. Im Kern seien „Dackel keine Fahrräder“. Allem, was in der Schlange stehe, bedürfe es laut Regelwerk an Pedalerie, erläutere ich. Nun allerdings verfügten weder die Dackel noch ihr Mobil über eine Pedalerie.
Die Dackelbesitzer lenken ein. Ihre Dackel und Pedalerie? Nein. Das seien doch schließlich ganz normale, vitale Tiere. Die Dackel, wohl schon länger an der Sinnhaftigkeit des gesamten Unternehmens Weltrekord zweifelnd, haben ihren Anhänger inzwischen lange verlassen. Mit ihrem widerstandsfähigen Rauhhaarfell lassen sie sich nirgends eingliedern. Sie liegen nebeneinander auf dem feuchten grünen Gras neben dem Rollfeld. Schweigend hecheln sie vor sich hin.
Gegen 14.30 Uhr – nach über einer Stunde des Wartens - ist der Rekord schließlich gebrochen. Rote Luftballons schießen in die Höhe. Etwa 1400 Menschen haben sich mit ihren Rädern auf dem Tempelhofer Flugfeld versammelt. Und zwei Dackel. Die aber betrachten die nach einem Rekord lechzende Schlange lieber von außen.

Menschen? Wollen sie keine sein.
Es geht zwar um die Wurst - für die Dackel aber ist keine dabei.

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