Dreizehn
Ob
man wartet oder nicht, am Ende kommt es immer gleich.
„Membranen sind selektiv für bestimmte Subtanzen und nur in eine Richtung durchlässig“, sagt die Biologie.
„Membranen sind selektiv für bestimmte Subtanzen und nur in eine Richtung durchlässig“, sagt die Biologie.
Sie sagt, dass das Jenseits eine
semipermeable Membran sein muss. Wer einmal hindurch schreitet oder hinein
buchsiert wird, der gelangt jedenfalls nicht wieder hinaus. Membranen sind
selektiv für wandelnde Geister, nicht aber für gepackte Koffer.
Vielleicht
hat oder wollte man sie vergessen, vielleicht haben sie einander überlebt oder
sich überworfen, vor dem einzutretenden Ende bereits ließ das Interesse an
ihnen samt Nachlass womöglich allmählich nach. So oder anders mag es gewesen
sein, die Leben sind überraschend oder langwierig, erwartet oder unerwartet,
irgendwann jedenfalls, erloschen, nun stapelt sich der Nachlass sperrig im Hals
der Hinterbliebenen oder schwebt im Vakuum der Vergessenheit, zersetzt sich
nicht fraglos und bohrt sich schmerzlich und unverhindert hindurch bis in die
Augen und den Kopf. Da findet sich niemand oder will sich niemand finden, hat
man sie schon vergessen oder fühlt sich erdrückt von der Last hölzerner
Schrankwände.
Nun
lösen sich wieder einmal ein paar ihrer Leben auf, von den Erinnerungen löst
man sich los und ihre Wohnungen durch fremde Hand auf.
In
den zusammengepackten Pappkisten zeugen die hinterbliebenen, angeschlagenen
Christbaumkugeln nun wie die ausrangierten Kristallkronleuchter ungefragt von
einem staubigen, vielleicht auch zweifelhaften, Glanz vergangener Zeiten.
Vielleicht von dem Streit um das Ausschmücken des Weihnachtsbaumes oder dem
euphorischen Schrei der Kinder, der gewöhnlich zusammen mit dem Zerfetzen des
Geschenkpapiers einsetzt, um danach schnell in der Konzentration des Spiels
oder tiefer Enttäuschung abzuklingen. Die Kinder sind nun jedenfalls schon
groß und fern oder wurden wie die Enkel nie geboren, Zeitungen
zerknüllen die Kinder jetzt und schreddern Din-A4-Dokumente, statt Papier zu
zerfetzen.
Bevor
die Last der Erinnerung an vergangene Leben eintritt, sind sie vielleicht schon
zur Last gefallen oder vergessen worden, trinken entfallen aus ihren
Porzellan-Teeservicen, essen ihr Frühstücksfleisch von den
eingekerbten Holzfrühstücksbrettern.
Und
wenn sie dann gänzlich entschwunden sind, dann weiß man nicht. Und wenn niemand
geblieben ist oder niemand bleiben will, wer soll dann schon wissen?
Die
angegilbten Spitzengardinen sind gleich wie die zerfetzten Kleiderleichen etwas
aus der Mode; Geld aber kommt nie aus der Mode. Und was nie aus der Mode kommt,
das lässt sich gut verkaufen. Da wird die Last der Vergangenheit kostenfrei
oder Frei von Sorgen besenrein bereinigt, da werden Leben zu Rechtecken
geformt, bis sie in braune Kisten passen, wird die sperrige
Erinnerung aus dem Hals gehustet und auf den Marktplatz hinausausgespuckt, wird
schließlich die Vergangenheit ausgesetzt, ausgeführt und Teile davon abgeführt.
Sie
zerfallen zu Staub im Jenseits und hier tarnt sich ihre Vergessenheit als
Geschäft. Der Wind zerwirbelt die Zahlen der begonnen Sudokus durch die
Luft, er riecht nach Kleiderfetzen, angelaufenem Papier und der heimischen
Modrigkeit vergangener Leben. Die silbrigen Arme des angelaufenen
Kerzenständers ragen aus den Kisten empor und schneiden in die Luft wie die
zappelnden Beine eines sich windenden Käfers.
Im
Schlund der Pappkisten begegnen sich auf dem Flohmarkt ganze Leben, würfeln
sich in ihren Rachen ganze Biographien willkürlich zu einem neuen
Gesamtkompositum ausgesetzter Vergangenheit aneinander.
Schließlich
packt einen die Neugier, da langt man in die Kisten hinein, streckt die
Finger aus und langt am Kistenboden nach braungefärbten Negativstreifen. Man
hält sie gegen weiße, aufgeblasene Wolken, die Aufmerksamkeit schwillt
an, die anonyme Privatsphäre taut ab, Bildreihen baumelnder Hoden nackter
Männer vor thailändisch anmutenden Tempeln bauen sich auf.
Nur durch die Spiegel
in den schönen Goldrahmen schaut man besser weder hindurch noch hinein,
blinzelt vielleicht einmal verlegen in ihre Richtung, um die eigene Haarpracht
mit der Dauerwelle der unbekannten Dame auf dem Foto abzugleichen, einem russischen
Aberglauben nach zufolge gilt, so hat der ein oder andere einmal gehört, dass
gesehene Geschichten in alten Spiegeln wohnen bleiben, dass sie gespiegelt,
aufgesogen und auf ihre Betrachter zurückgeworfen werden, ob gut, ob
ungut.
Der
Rathausturm schließlich schlägt zur dreizehnten Stunde und um ein
Uhr dann läuten die Glocken den Ausverkauf des Lebens ein. Der Preis für
eine fragmentierte und ausgesetzte Teilvergangenheit erscheint plötzlich
durchaus erschwinglich, der Preisblitz schlägt ein und lässt die goldfarbenen
Kronleuchter laut aufleuchten, das Kristallglas klirrt und donnert
zwischenzeitlich nochmal wie auf den Familienfeiern vergangener Zeiten
aneinander, als zu Silvester immer die übersüßte rote Bohle am besten
schmeckte. Die Händler lecken sich die Lippen und raffen unbemerkt
die Zähne, finanziell soll aus den Kisten noch einmal alles hinaus geholt
werden. Zugreifen.
Die
angelaufenen, weißgelben Stoffgardinen sind plötzlich vielleicht doch mehr
Vintage als aus der Mode, denn das ist erschwinglich, das kann man sich
leisten. Da hebt man doch noch einmal ein paar unscheinbare Steine an, taucht
ein in die Flut von
Tassen
Kannen
Kännchen
und
dem Meer an Erinnerung, die nun niemandem mehr und allen gehört. Findet
Liebesbriefe an den lieben Mann, Erinnerungen an Italien 1967, Fotografien
Champs-Elysées ´79 und Feldpostbriefkarten,
begraben gleich unter vermeintlichen Eheleuten, bildlich verewigt auf einem
quietschbunten Souvenirteller, Hong Kong 2002. Der Nieselregeln presst abgelichtete
Männer mit Dackeln und Babyfotos aneinander, Postkarten von den Voralberger
Alpen rutschen in Geschichten um Loriots Frühstücksei, der Erzählband
Stalingrad 1944 überdeckt Briefe an die liebe Familie in Berlin, verirrte
Mixstäbe liegen verborgen unter einer Sammlung von Sprungwettbewerben der
Leichtathletik, Computerzeitschriften von 1984 zeugen von der Hoffnung auf
morgen im Leben von gestern.
Die
neue Patchwork-Vergangenheit will adoptiert werden.
Все зло сжигаю, в трубу выгоняю, чистое стекло на три замка запираю.
Spiegel
lassen sich genauso bereinigen, wie die Namenszüge der ausgestellten Dart-
und Kegel-Pokale rückstandslos überschleifbar sind. Weihwasser, Kerzen,
schwarzes Salz und ein Psalm entjagen ihnen ihre
aufgesogenen Geschichten, sagt ein russischer Aberglaube.
Stehlampen
erloschener Leben sollen noch einmal aufleuchten und Schallplatten um das
singende, klingende Erzgebirge wollen noch einmal eine Ehrenrunde auf dem
Plattenteller drehen. Gesammelte Krücken im Regenschirmständer drapieren sich
zu bunten Blumensträußen, Brillengestelle türmen sich zu Bergen auf, angelaufene
Goldrahmen beherbergen ein Bergpanorama vor versammelten Holzhütten und warten auf ihr
neues Zuhause, überschattet von angeschwollenen Weintrauben eines
Obststillebens deformierter Äpfel.
Die
Trödelnden befühlen mit ihren Fingern das Polster des angekarrten beigen
Sofas mit den grün-blauen Blumen und fahren langsam die halbrunden Armlehnen
der Ottomane nach, stellen sich vor, dass Goethe in Campagna darauf wohl
bequemer gesessen hätte als auf einem Obelisken, die Touristen beäugen innig
die Feldpostkarten und das singende, klingende Erzgebirge schließlich wartet
schreiend auf seinen Verkauf. Zugeschnappt hat man beim Schnäppchen, die
grüngelbe Tabak-Holzkiste erworben und verstaut, das vergilbte Foto des
älteren Herren mit dem kleinen Hündchen auf dem Arm als Maskottchen
für die WG-Küche wurde adoptiert. In seiner angelaufenen Gelbheit
wird er nun im Zigarettendunst nachreifen, eine dekorative Herrlichkeit
in Ewigkeit. Bis die WG selbst an Karzinomen zerfällt und am Ende alle,
irgendwann vielleicht, gleichberechtigt-vergessen in den Kisten landen, um sich
gemeinsam in Schichten zu überwerfen.
Was
gekommen ist, wird bleiben bis es geht oder nicht wieder aufgefahren wird. Der
Tod hat Konjunktur in Limesschleife, nächste Woche dann oder vielleicht in drei
werden die Kisten neu aufgegossen, wird der Friedhof der Bilder neu bepflanzt,
wirbelt der Wind den Sud der Zahlen auf und wartet der Wühltisch auf seine
Kleiderleichen.
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