Sie kommen und wir warten nicht.



Das MMCasino ist schon solange dort, dass niemand mehr weiß, wann es kam. Die Beständigkeit unserer Straße. Es war schon immer da, sagen die Übrigen. Oder lang.  Nur  aus der achtzehn haben sie dann schließlich irgendwann eine einundzwanzig gemalt. „Zutritt unter 21 Jahren verboten“, steht dort auf schmierigem Glas in rot geschrieben. Mehr Kundschaft lohnt nicht. Zu viele halbwüchsige Jungen, zu wenig Scheine, zu viel Kleingeld. Dafür mit vollklimatisierten Räumen und Kundenparkplätzen hinter den grauen Gittern; für die, die es sich leisten können. Für die, die schon gewonnen oder noch nichts verspielt haben.

Hier werden Sie zum Gewinner. Lassen Sie sich verzaubern.

Das Land hinter der Brücke ist das Land, auf dem wir wohnen. Wir haben nie betont hier zu wohnen. Wir wollten noch nie in sein. Wir waren die Underdogs und wir mochten es, weil wir uns nie Mühe gaben, welche zu sein. Wir gehörten dazu, zu uns selbst.               
Außerhalb des S-Bahnrings zu leben, wo der Späti mit dem Augustiner fehlt, bedeutete für uns keinen Selbstmord im Affekt, bedeutete keinen Akt des Mitleids, brachte  keine ausufernde Traurigkeit mit sich. Wir haben hier gewohnt, zwischen drei und dreißig Jahren.

Bier kauft sich auch später am Abend in der Britzer Klatsche.
Bier verkauft sich auch in unserem  Casino.

Wir mochten es bisher dort, wo das MMCasino in grellem Gelb die Bürgerstraße anstrahlt, so gelb, dass es keiner Straßenbeleuchtung mehr bedarf. Wo man glühweintrinkend und beschwipst auf dem Balkon tanzen konnte, um danach die Spardose mit betrunkener Leichtigkeit in das Casino zu kippen. Dort, wo der Wurstsonderpostenmarkt gleich an der Ecke seine fahlweißen Eisbeine  mit duftendem Sauerkraut andreht. Solange der Vorrat reicht. Azubi gesucht. Hier stand die Welt  in Frieden. Hier wusste man, dass  die Stadtreinigung immer donnerstags kommt. 
Dort, wo  der Döner noch nicht Vollkorn ist und Cafés mit geschliffenen Kacheln, Spitzentischdecken und Wifi noch nie ankamen. Bisher. Wir brauchten keine französischen  Croissants, jeden Sonntag mochten wir unsere kleinen fahlen Aufbackschrippen vom Bäcker gegenüber.

Der S-Bahn-Ring wächst und schneidet genau dort in unser Fleisch, wo der Kran sich in die Erde bohrt.

Sie kommen.

Angefangen hat alles mit diesem einen Balkon, rechteckig, schön und abgeblättert. Abgebrochen haben sie ihn, so sagt man richtig.  Dann kam der gelbe Kran. Dann kamen sie und haben  uns all die anderen  Balkone genommen, einen  nach dem anderen.  Da hat das Haus unter dem Beben des Krans auf der Erde geächzt,  da wurde das  Haus teilamputiert und schließlich nackt.
Auf dem Hof stapeln sich nun die Sandberge, liegen auf den rauen Aufgangsteppichen die zertrümmerten Fenster neben den ausrangierten Türen.  Türen nicht öffnen. Lebensgefahr.
Wir schauen auf die sandigen Berge und verstummen mit den gefällten Pappeln  im Lärm.

Zugleich erfolgt die Aufstockung des Bestandsgebäudes um ein Stockwerk. Diese Wohnungen verfügen über Fußbodenheizung und Fußbodenfliesen in der gesamten Wohnung.

Oben warten schon die gemachten Nester auf die neuen Zugvögel, warm wird es ihnen sein. Ihre liquiden Schnäbel stopft man mit Fußbodenheizungen, die neuen Dachterrassen haben City-Blick, sie  bieten ausreichend Spannweite für  einnehmende Flügelschläge.
Erst nahmen sie  uns die Balkone. Mit den Balkonen nahm sie uns den Frieden und mit dem Frieden nahmen sie uns unsere Ruhe.  Dann hat ein Kran schließlich den Autoplatz  der anderen Straßenseite eingenommen. Haben die Bauarbeiter den trapezförmig gepflasterten Steinboden zerhauen. Haben sie den Beton in das Fundament gegossen. Rhythmisch im Takt mit dem Hauen des Bohrers ist jemand von uns gewichen. Den einen hat der Staub hinausgetragen, den nächsten der Lärm hinausgeweht, die neuen Mieten haben uns bereinigt. 

Die Balkone brach man ab, die Mieter brachen dem Lärm weg und jetzt brechen neue Zeiten an.

Wir sind vor euch geflohen. Nun flieht ihr zu uns.

Mit jedem Gerüst, das weicht, putzen sich die Häuser heraus, pellen sich heraus aus ihrem Kokon, pressen sich mit ihren gläsernen Aufzugschächten fraglos hinein in die Straße.
Die Heuschrecken haben die Raupen nicht gefressen, nur  neu verpackt.
In unserem Haus ist der Aufgangsteppich nun gewichen, heute trägt man weiß mit kalten, grauen Steinfliesen. Die Alten kennt man hier nicht mehr, dass muss gewesen sein, bevor der Steinboden kam.  Als es noch den rauen Teppich gab mit den Stühlen zwischen den Stockwerken, die Stühle der Rosas. Ihre Etagenpausen im Treppenhaus waren etablierte Ruhezonen. Bis das Altersheim schließlich zum besseren Zufluchtsort vor der Wohnungsaufwertung wurde. Die Rosas sind gewichen und die gläsernen Aufzugschächte sind gekommen.
Da rammt sich der Bohrer in die Fassade, da zerfetzt es den Putz und glitzert im Goldrausch verführerisch das versprochene Geld  der nahenden Fassadensanierung.

Im Hofbereich der Bürgerstraße entsteht eine Stadtvilla mit sieben neuen Wohnungen. Die neuen Wohnungen werden unsere bisherige Durchschnittsmiete leider anheben.

Unter die Brücke hindurch rollen sie jetzt mit ihren Rennrädern zu uns, vorbei am Casino, hinauf entlang an den kalten Steintreppen nach oben. Eilig haben sie es nach Hause, beschwingt lässt es sich mit dem Rennrad rasen auf dem platten, grauen Asphalt der Hermannstraße. Zeit ist Geld.
Die Autobahnbrücke schneidet keine scharfe Schneise mehr zwischen der Grenzallee und eurem Neukölln aus den Touristenführern.
Platz ist dort, wo man das Geld riechen kann. Neue Kräne ziehen mit den Zugvögeln allmählich in die Nachbarschaft, sie eilen heran und zerstören gierig den City-Blick der neuen Dachterrassen.

Der S-Bahn-Ring hat uns gefressen und die Heuschrecken haben die Raupen zu teuren Schmetterlingen entpuppt.  
Wir sind keine Underdogs mehr. Wir wohnen jetzt mit euch, bis wir gehen müssen. Ihr seid gekommen und solange wir übrig bleiben, gehören wir zu euch.

In unserem Haus hören wir die Neuen nicht nur nach oben schreiten, wir  sehen sie jetzt  auch von unten nach oben und von oben nach unten steigen; wir haben statt der Balkone nun eine Videogegensprechanlage. Damit blickt es sich fast genauso auf die Straße, nur in schwarz-weiß. Im Dunkeln spürt man fast gar keinen Unterschied. Dann sieht man schräg im grellen Licht die zwei M des Casinos leuchten. MM. Und wenn man die Augen schließt, fest; ganz fest, dann kann man  um einen Hauch den seichten Zigarettenzug des vorbeieilenden Neuen riechen, der genauso unwillig wie nichtsahnend die Kamera streift.
Wir sehen euch. Und wir sehen 

MMCasino.

Dort, wo ein paar der Übrigen noch am Spielautomaten auf die vierte Melone, Zitrone oder Pflaume hofft. Dort, wo mehr Zeit weniger Geld bedeutet.
Ein Schnaps mildert den wachsenden Verlust bei ausbleibender Traubenernte:
Alkohol  hämmert am nächsten Tag weniger beständig als Kran&Bohrer.
Dort, wo es sich neuerdings lohnt, einen Euro auf die neue Mietfinanzierung zu verwetten.

Hier werden Sie zum Gewinner. Lassen Sie sich verzaubern.

Aus dem Fenster zu lehnen brauchen wir uns wegen der neuen Mieten ohnehin nicht. Wir haben jetzt dezentrale Lüfter. Wir brauchen keine Fenster mehr.

Sie sind gekommen und wir haben niemanden erwartet.

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